Das Arbeitsleben eines Nachhaltigkeitswissenschaftlers kann manchmal frustrierend sein. Viele Veröffentlichungen sind nicht oder nur schwer zugänglich, Daten sind nicht verfügbar und die berichteten Ergebnisse oft nicht reproduzierbar. Immer noch beginnen zu viele DoktorandInnen ihre Arbeit mit einer leeren Excel-Arbeitsmappe, tragen aber wenig bis nicht zum Werkzeugkasten der Wissenschaft bei, so dass die nächste Doktorandengeneration wieder mit einem leeren Arbeitsbuch beginnt. Diese weit verbreiteten Forschungspraktiken behindern die Wissensakkumulation und verlangsamen den Fortschritt. Für viele veröffentlichte Feststellungen sind die verwendeten Daten, die verwendete Software und manchmal sogar grundlegende Annahmen wie die Wahl der Systemgrenzen (welche Prozesse und Auswirkungen in einer Studie enthalten sind und welche nicht) nicht gut dokumentiert, z. B. in der Ökobilanz. Zwischenergebnisse werden nicht dokumentiert, was bedeutet, dass andere Forscher vorhandenes Wissen häufig nicht nutzen können. Infolgedessen hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von sich wiederholenden Untersuchungen, inkompatiblen Datensätzen und undurchsichtigen Modellierungswerkzeugen angesammelt. Viele der generierten Daten und entwickelten Modelle können nicht verbessert oder wiederverwendet werden. Daher tragen die veröffentlichten Arbeiten oft nicht zu einer kumulativen Wissensbasis bei, und es besteht die Gefahr, dass unsere Arbeit an Relevanz verliert und sich allmählich in Beschäftigungstherapie verwandelt. Der Beratungscharakter vieler Projekte, die Tendenz zur Veröffentlichung in kleinen Einheiten und oft kurze Projektlaufzeiten liefern keine Anreize für Wissensakkumulation, Verfeinerung von Daten sowie die Entwicklung einer transparenten Methodik, ganz im Gegenteil.
Wir müssen die oben aufgeführten Hindernisse für die Wissensakkumulation in den beteiligten Disziplinen überwinden, um auch in Zukunft robuste Information zu Entscheidungen über nachhaltige Entwicklung liefern zu können.
Das Fehlen von Anreizen für die kumulative Forschung in den Nachhaltigkeitswissenschaften stört mich schon seit einigen Jahren. Ich denke, es liegt in erster Linie in der Verantwortung von uns Wissenschaftlern, unsere Arbeitsabläufe zu überdenken und die Wissensakkumulation zu forcieren. Während alle beteiligten Akteure, von den Geldgebern bis hin zu den Verlegern wissenschaftlicher Zeitschriften, zur Förderung der Wissensakkumulation beitragen können, liegt die Hauptverantwortung meines Erachtens nach bei uns Forschern und insbesondere bei den wissenschaftlichen Gesellschaften.
Ich habe meine Gedanken und Lösungsvorschläge für das Problem der Wissensakkumulation in einem Kommentar zur zukünftigen Entwicklung der Nachhaltigkeitswissenschaften niedergeschrieben. Dieser Beitrag wurde kürzlich in „Nature Sustainability“ veröffentlicht, ein Link und die zentralen Punkte aus dem Kommentar finden sich unten.
Im Kommentar beschreibe ich die erforderlichen Maßnahmen und die für deren Umsetzung benötigte Forschungsinfrastruktur. Außerdem liste ich die Verantwortlichkeiten der verschiedenen Akteure für die Förderung der Wissensakkumulation auf.
Die Lösungen für die strukturellen Probleme der Nachhaltigkeitswissenschaften müssen von der ForscherInnengemeinschaft entwickelt und getragen werden. Das Ganze muss mit Unterstützung der verschiedenen Interessengruppen geschehen, da nur so ein Strukturwandel in den Nachhaltigkeitswissenschaften herbeigeführt werden kann. Für diesen Strukturwandel müssen verschiedene Prozesse installiert (Abbildung, innerer Kreis) und wichtige externe Faktoren berücksichtigt werden (Abbildung, äußerer Kreis).
Eine Änderung der Forschungskultur ist erforderlich, um Wissensakkumulation zur neuen Normalität in den Nachhaltigkeitswissenschaften werden zu lassen und sie in die Arbeitsabläufe zu integrieren, die sich aus der Anwendung kumulativer Forschungsmethoden ergeben.
Ich lade Sie ein, sich die im Kommentar vorgeschlagenen Maßnahmen anzuschauen und sich an der Verbesserung unseres Wissenschaftszweiges zu beteiligen!
Link zum Kommentar: https://www.nature.com/articles/s41893-019-0443-7
Anhang
Tabelle 1. Maßnahmen und Infrastrukturbedarf für Wissensakkumulation in den Nachhaltigkeitswissenschaften. Übersetzt aus Pauliuk (2019), DOI: 10.1038/s41893-019-0443-7.
Forschungsschritt | Maßnahme | Benötigte Infrastruktur und Interventionen |
Zielsetzung, Datensammlung, Methodenwahl | · Nutzung und Erweiterung bestehender analytischer Ansätze
· Übersicht über Vorhandene Daten, Methoden, Analysewerkzeuge und transdisziplinäre Erfahrung · Einbeziehung der Erfahrung von Praxispartnern und Anwendern · Durchführung von Multi-Modell-Fallstudien |
· Katalog von Forschungsansätzen
· Katalog von Daten, Methoden, und Analysewerkzeugen · Praxispartnernetzwerke · Plattformen für Modellvergleiche |
Datenverarbeitung und –formatierung | · Nutzung und Erweiterung vorhandener Datenmodelle
· Beitrag zu verknüpften Datensätzen mit allgemeinen Klassifikationen · Verwendung allgemeiner Klassifikationen · Archivierung formatierter Datensätze |
· Allgemein akzeptierte Datenmodelle
· Umwandlung von Daten in verknüpfte offene Datensätze, Integration von Datenbanken · Etablierung standardisierter Klassifikationen · Formatierungshilfen und Einlesealgorithmen für Daten |
Entwicklung und Nutzung von Analysewerkzeugen und -modellen | · (Wieder-)Nutzung und Entwicklung von modularen Analysewerkzeugen und –modellen
· Beitrag zu unabhängig begutachteten Werkzeugen · Testen modularer Werkzeuge · Bereitstellen von guten Beispielwerkzeugen |
· Strategische Entwicklung von Forschungswerkzeugen und deren Verfeinerungen über Disziplinen hinweg
· Unterstützung bei der Entwicklung und Verbesserung von Schnittstellen zwischen Modellen und Modulen · Verteilung des Aufwandes für das (blinde) Testen von Modellen und Daten · Plattformen für das Teilen von Erfahrungen und Beispielwerkzeugen |
Dokumentation und Verbreitung von Forschungsergebnissen | · Dokumentierung von Forschungsabläufen, inkl. der getroffenen Annahmen und Werturteilen
· Erhöhte Nachvollziehbarkeit von Forschungsergebnissen durch interaktive Visualisierung · Erhöhte Wiederverwendbarkeit von Forschungsergebnissen durch deren Bereitstellung in Datenbanken |
· Bereitstellung von Forschungsprotokollen
· Bereitstellen von Plattformen für interaktive Visualisierung von Daten · Erweiterung vorhandener Datenbanken für Rohdaten und Modellergebnisse |
Tabelle 2. Verantwortlichkeiten für Wissensakkumulation in den Nachhaltigkeitswissenschaften. Übersetzt aus Pauliuk (2019), DOI: 10.1038/s41893-019-0443-7.
“NachwuchsforscherInnen” |
+ Bewusstseinsbildung: Reflektionen über eigene Arbeit und über Wissensakkumulation |
+ Anknüpfen an Bestehendes: Erweitern und Verbessern bestehender Ansätze und Werkzeuge,
Erstellen von brauchbarer Dokumentation, Einfordern von Methodentraining hoher Qualität |
Etablierte ForscherInnen |
+ Mit gutem Beispiel vorangehen! |
+ Erstellen von Richtlinien für das Teilen von Analysewerkzeugen und Erfahrungen mit
transformativer Forschung |
+ Erstellen von Lehr- und Trainingsmaterial |
Herausgeber (von wiss. Zeitschriften) und Gutachter |
+ Bereitstellung von Beispielen und Richtlinien für transparente Methoden, Datenverarbeitung,
Reproduzierbarkeit, und Archivierung |
+ Durchsetzung hoher Standards für Methoden- und Datentransparenz, Reproduzierbarkeit, und Datenarchivierung |
(Wiss.) Verleger |
+ Besondere Beiträge zur Wissensakkumulation sollten hervorgehoben und ausgezeichnet werden |
+ Autoren sollte die Möglichkeit gegeben werden, eingereichte Manuskripte auf sog. Preprint-
Servern zu archivieren. |
+ Zusätzlich publiziertes Material und Dokumentation (‘supplementary material‘) sollte
grundsätzlich frei verfügbar sein von von der Lizenzvereinbahrung ausgenommen sein |
Wissenschaftliche Gesellschaften |
+ Entwickeln von Richtlinien für reproduzierbare Forschung und Archivierung von Daten sowie das
Teilen von Erfahrung
|
+ Erstellen von Übersichten zum Stand der Forschung (Forschungsansätze, Methoden, Werkzeuge, Daten) |
+ Lernen von erfolgreichen Infrastrukturprojekten in anderen Disziplinen |
+ Erstellen von Übersichten über den Bedarf an Forschungsinfrastruktur und Unterstützung bei der Umsetzung von Infrastrukturprojekten |
+ Betrieb von Forschungsinfrastruktur, wo sinnvoll. |
+ Ausrichten von Veranstaltungen/Foren für Wissensakkumulation (Workshops, Foren, special sessions) |
+ Auszeichnung von herausragenden Beiträgen zur Wissensakkumulation |
Geldgeber |
+ Dialog mit den Wissenschafterlnnen bez. der Herausforderungen in der Wissensakkumulation |
+ Auflegen von Förderlinien für Forschungsinfrastruktur in den Nachhaltigkeitswissenschaften |
+ Einfordern von Methoden- und Datentransparenz, Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, und
Datenarchivierung |
Gesellschaftliche Akteure |
+ Einfordern transparenter und reproduzierbare Generation von Wissen zu den Strategien für
nachhaltige Entwicklung |
+ Festschreiben der effektiven Nutzung von Forschungsgeldern für die
Nachhaltigkeitswissenschaften |
+ Festlegung oder Gründung der Organe zum Betrieb von Forschungsinfrastruktur |