Was heißt und zu welchem Ende studiert man „Industrial Ecology“? [*]

Soll Milch in Tetrapaks oder in Pfandflaschen verkauft werden? Sind Elektroautos wirklich besser für die Umwelt? Und was ist mit Biokraftstoffen? Zur Beantwortung dieser Fragen lassen sich leicht plausible Argumente finden. Pfandflaschen ersetzen Getränkekartons und sparen so Papier und Kunststoffe ein. Allerdings benötigt der Rücktransport und Reinigung dieser Flaschen Energie. Tetrapaks sind leichter und sparen dadurch Transportenergie. Sie sind aber durch die Verwendung von Verbundwerkstoffen schwer zu recyceln und werden vielfacht einfach verbrannt. Bei Pfandflaschen wiederum kommt es darauf an, wie häufig die Konsumenten sie in die Geschäfte zurückbringen. Für die anderen Beispiele Elektroauto und Biokraftstoff kann man ähnlich gelagerte plausible Argumente finden.

Mit qualitativer Argumentation kommt man hier jedoch nicht weiter. Um herauszufinden, wie umweltfreundlich ein bestimmtes Produkt oder ein bestimmter Lebensstil tatsächlich ist, braucht es zwei Dinge: Zum einen eine quantitative Analyse der tatsächlich auftretenden Material- und Energieströme und ihrer Umweltauswirkungen, und zum anderen eine übergeordnete Systemperspektive, welche die Analyse der Energieversorgung, des Transports, der Verarbeitung und der Benutzung von Produkten erst vereinheitlicht und somit vergleichbar macht. Im internationalen Kontext wird die quantitative Systemanalyse von Mensch-Umwelt-Technik-Wechselwirkungen oft als „Industrial Ecology“, im deutschen Sprachraum auch als Industrieökologie, bezeichnet.

Auf den ersten Blick erscheint das Konstrukt Industrial Ecology, oder Industrieökologie, als ein Widerspruch in sich. Schließen sich Umwelt und Industrie nicht gegenseitig aus? Erst beim zweiten Blick wird klar, worum es hier geht: „Industrial“ bezeichnet den Gegenstand der Analyse, nämlich das menschgemachte industrielle System aus Ressourcenabbau, Materialproduktion, verarbeitenden Industrien, Konsumenten, Abfallverwertung und Recycling. „Ecology“ bezeichnet hier nicht etwa Reste unberührter Natur innerhalb industrieller Anlagen, sondern eine besondere Perspektive auf industrielle Systeme, nämlich die Perspektive eines komplexen menschgemachten Ökosystems aus Stoff- und Energieflüssen, industriellen Transformationsprozessen und Märkten zum Güteraustausch. Industrial Ecology bezeichnet also die quantitative Analyse der industriellen Stoff- und Energieflüsse aus einer Systemperspektive. Industrial Ecology ist eine Systemwissenschaft und liefert somit einen Rahmen für die Integration von Wissen aus unterschiedlichen Fachgebieten (‘knowledge integration’).

Die Stoff- und Energieflüsse sowie die Bestände an Materialien und Produkten im industriellen System bilden die physische Grundlage unserer Gesellschaft. Sie beinhalten die Nahrung, die wir zu uns nehmen, die Treibstoffe für unsere Autos, den Stahl und den Beton für unsere Häuser sowie die zur Herstellung aller Produkte nötigen natürlichen Ressourcen und die bei Produktions- und Konsumprozessen entstehenden Emissionen und Abfälle.

Das Besondere an der Systemperspektive ist die Einbeziehung von Wechselwirkungen zwischen einzelnen Prozessen (Abwärme aus Kraftwerken wird zur Trocknung von Papier genutzt), einzelnen Produkten (die CO2-Bilanz von Elektroautos wird wesentlich durch den Strommix bestimmt), einzelnen Materialien (Substitution von Stahl durch Aluminium) oder einzelnen Ressourcen (Co-Produktion von Edelmetallen und Kupfer). Es gibt eine Vielzahl ähnlich gelagerter Kopplungen im System der Anthroposphäre, also des vom Menschen kontrollierten Teils der Welt. Erst aus einer Systemperspektive wird klar, dass lokal optimale Lösungen (oft als ‚nachhaltige Produkte‘ deklariert) auf großer Skala nicht unbedingt auch optimal sind. So führt eine starke Nutzung von Biotreibstoffen zur Abholzung von Primärwald, ein massiver Ausbau fluktuierender Stromquellen von Wind und Sonne zu Instabilität im Stromnetz und in den Strompreisen, oder eine auf bestimmte Metalle ausgerichtete Technologie zu Abhängigkeiten von Ländern mit speziellen Ressourcenvorkommen. Außerdem erlaubt die Systemperspektive das Studium von Rückkopplungen im System, zum Beispiel den Anstieg von Emissionen in der Aluminiumproduktion durch verstärkte Anwendung dieses Materials im (Karosserie)-Leichtbau oder eine Erhöhung des Energieverbrauchs durch Abbau von Erzen immer geringerer Konzentration, getrieben durch die erhöhte Nachfrage nach Metallen wie Kupfer als Folge der zunehmenden Elektrifizierung des Energiesystems.

In den drei Jahrzehnten seit der Entstehung des Begriffs Industrial Ecology haben die unter diesem Label versammelten Forscher folgende zentrale Systemkopplungen identifiziert und Methoden zu deren Studium entwickelt:

+ Globale Wertschöpfungsketten und die Lebenszyklusperspektive:  Ein Pumpspeicherkraftwerk hat deutlich höhere lokale Umweltauswirkungen als eine äquivalente Anzahl von haushaltsgebundenen Batteriespeichern. Betrachtet man jedoch die globalen Vorketten der Batterien ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Die Umweltbelastungen durch Bergbau und Verhüttung zur Bereitstellung der in den Batterien verbauten Metalle und durch die Energieversorgung zu deren Herstellung sind erheblich und können das Endergebnis der Umweltbewertung der einzelnen Energiespeicher auf den Kopf stellen. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die CO2-Bilanz eines Elektroautos unter verschiedenen Strommixen ermittelt. Ohne die Einbeziehung globaler Wertschöpfungsketten und der Trade-offs zwischen Emissionen während der Herstellung und der Nutzungsphase (Lebenszyklusperspektive) besteht die Gefahr der Problemverschiebung (burden shifting), also die Auslagerung unbequemer Produktionsprozesse in Gegenden, wo Emissionen weniger streng oder gar nicht reguliert sind und auf wenig bürgerlichen oder politischen Widerstand stoßen.

Die Ökobilanz (life cycle assessment) ist die etablierte Methode zur Quantifizierung von Ressourcenverbrauch und Emissionen in der Vorkette von Produkten und Dienstleistungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Lebenszyklusanalyse

Die aus der Volkswirtschaftslehre stammende Input-Output-Analyse ist die etablierte Methode zur Ermittlung des länderspezifischen Fußabdrucks für Land, Wasser, Materialien oder Treibhausgase mit Hilfe von Modellen der Weltwirtschaft, welche internationale Handelsverflechtungen abbilden: https://de.wikipedia.org/wiki/Input-Output-Analyse

+ Die Verbindung von Service, Kapital und Stoff- und Energieströmen: Viele der für unser Leben zentralen Dienstleistungen wie Wohnen oder Transport werden von Kapitalbeständen wie PKWs oder Häusern erbracht. Der Aufbau und die Aufrechterhaltung der Menge dieser Bestände erfordert Stoffströme und Energieflüsse, z.B. die Produktion von Stahl, Beton, Kupfer, oder Kunststoff. Die Stahlproduktion, allein verantwortlich für fast 10% aller anthropogenen CO2-Emissionen, bestimmt also mittelbar die Menge an bestandsgebundenen Dienstleistungen (Brücken, Schienentransport, Autos,…), welche erbracht werden können. Um große Produktbestände aufbauen zu können, müssen teils gewaltige Mengen Material produziert werden, welches dann während seiner Nutzungszeit den Menschen zur Verfügung steht. In China zum Beispiel werden Gigatonnen an Zement und Stahl produziert, welche vor allem im Ausbau der Transportinfrastruktur und der Verstädterung zur Anwendung kommen. Wenn die Gebäude- und Infrastrukturbestände gesättigt sind, das Land also seine Industrialisierung abgeschlossen hat, werden die Produktionsflüsse wieder zurückgehen. Recycling auf großer Skala kann erst stattfinden, wenn genügend hohe Materialbestände aufgebaut sind. Wichtig ist, dass Materialproduktion, die Erbringung von Dienstleistungen durch die Materialien und das anschließende Recycling zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden, und dass man außerdem zum Ausrollen neuer Technologien wie Elektroautos erhebliche Mengen Material benötigt. Eine umfassende Bewertung der Strategien zur nachhaltigen Entwicklung muss deshalb deren Auswirkung auf die Materialproduktion sowie das zukünftige Recyclingpotential untersuchen. Die wissenschaftliche Untersuchung der Verbindung von Service, Kapital und Stoff- und Energieströmen erfolgt mit der dynamischen Bestandsmodellierung (https://en.wikipedia.org/wiki/Dynamic_stock_modelling).

+ Stoffkreisläufe sind ein zentrales Konzept, um Abbau, Gewinnung, Verarbeitung, Nutzung, Verwertung und Recycling eines Materials oder chemischen Elements von einer übergeordneten Perspektive aus zu studieren. Aus der Perspektive des Stoffkreislaufs wird klar, dass Recycling nur möglich ist, wenn entsprechende Altbestände an Materialien vorhanden sind, und dass Stoffkreisläufe nur geschlossen werden können, wenn die Bestände in der Nutzung nicht mehr wachsen (in diesem Fall ist immer Primärproduktion nötig). Für eine Reihe von Metallen, unter anderem für Eisen, Gold und Kupfer, sind die vom Menschen verursachten Stoffströme deutlich höher als die natürlichen.

Die Modellierung und Analyse von Stoff-und Energieströmen zwischen Industrie- und Endverbrauchssektoren (Haushalte, öffentliche Einrichtungen, Import, Export) erfolgt mit der Stoffstromanalyse (https://de.wikipedia.org/wiki/Stoffstromanalyse).

+ Kuppelproduktion bedeutet, dass ein Industriebetrieb neben einem Hauptprodukt (z.B. Elektrizität) auch Nebenprodukte (z.B. Wärme) vermarktet. Dadurch können eingesetzte Ressourcen effizienter genutzt und zusätzliche Einkünfte generiert werden (https://de.wikipedia.org/wiki/Kuppelproduktion).

+ Industrial Symbiosis: Nebenprodukte, die nicht einfach zu vermarkten sind, können trotzdem noch genug Restenergie oder –material enthalten, so dass eine Verwendung in auf diese Produkte abgestimmten Anlagen sinnvoll ist. Beispielsweise finden sich Papierfabriken oft in der Nähe von Kohlekraftwerken, weil sie deren Abwärme zur Papiertrocknung nutzen können. Flugasche aus Feuerungsanlagen kann als Zuschlagstoff in den Zement gegeben werden. Hochofenschlacke kann sogar als Zementersatz dienen. Bei Ansiedlung einer größeren Anzahl von Industriebetrieben in großer Nähe zueinander entstehen zahlreiche Nutzungsmöglichkeiten für Nebenprodukte, gleichzeitig entfallen lange Transportwege. Eine solche Ansiedlung wird als Eco-Industrial Park bezeichnet, und die interindustrielle Verwendung von Nebenprodukten firmiert als sogenannte Industrial Symbiosis (https://en.wikipedia.org/wiki/Industrial_symbiosis)

+ Die Verbindung zwischen Stadtstrukturen und Transportmustern: Städtische Strukturen haben bedeutenden Einfluss auf die Transportgewohnheiten ihrer Bewohner. Die Nähe und Erreichbarkeit verschiedener städtischer Funktionen wie Wohnen, Arbeit und Freizeitgestaltung beeinflussen die Wahl des Transportmittels, die Zeit, welche für Transport aufgewendet werden muss, und den Energiebedarf. Das Studium städtischen Energie- und Materialverbrauchs im Zusammenhang mit städtischen Strukturen bezeichnet man als „Urban Metabolism“ (https://en.wikipedia.org/wiki/Urban_metabolism).

Zu welchem Ende studiert man Industrial Ecology?

Die beschriebenen Kopplungen im System der Anthroposphäre haben einen bedeutenden Einfluss auf die tatsächlichen Umweltauswirkungen und somit die tatsächliche Wirksamkeit vieler Strategien zur Nachhaltigen Entwicklung wie Elektroautos, neue Materialien oder Produkte aus Biomasse. Die bestehenden Analyse- und Bewertungsmethoden müssen ständig an neue Erkenntnisse zu diesen Kopplungen angepasst werden, damit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auch in Zukunft auf solide wissenschaftliche Erkenntnisse zur nachhaltigen Entwicklung bauen können. Das Fachgebiet Industrial Ecology ist an der Weiterentwicklung des Werkzeugkastens der oben genannten Analyse- und Bewertungsmethoden führend beteiligt. Gleichzeitig steht die Industrial Ecology im engen Austausch mit den Nachbardisziplinen, darunter der Volkswirtschaftslehre, Integrierten Bewertungsmodellen (integrated assessment models IAM), der Wirtschaftsgeographie sowie den Umweltwissenschaften. Dieser enge fachliche Austausch ermöglicht die Integration des wissenschaftlichen Fortschritts eines breiten Fächerspektrums in die Nachhaltigkeitsbewertungsmethoden der Industrial Ecology, damit diese ihrem Anspruch einer umfassenden Systemperspektive gerecht wird.

 

Links:

International Society for Industrial Ecology: www.is4ie.org/

Netzwerk Industrial Ecology: http://blog.industrialecology.de/

 

Literatur:

Fischer-Kowalski, M., 1998. Society’s Metabolism: The Intellectual History of Materials Flow Analysis, Part I, I 860- I 970. Journal of Industrial Ecology 2, 61–78.

Hertwich, E.G., Gibon, T., Bouman, E.A., Arvesen, A., Suh, S., Heath, G. a., Bergesen, J.D., Ramirez, A., Vega, M.I., Shi, L., 2015. Integrated life-cycle assessment of electricity-supply scenarios confirms global environmental benefit of low-carbon technologies. Proc. Natl. Acad. Sci. 112, 6277–6282.

Jelinski, L.W., Graedel, T.E., Laudise, R. a, McCall, D.W., Patel, C.K., 1992. Industrial ecology: concepts and approaches. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA. 89, 793–7.

Pauliuk, S., Hertwich, E.G., 2015. Socioeconomic Metabolism as Paradigm for Studying the Biophysical Basis of Human Society. Ecological Economics 119, 83–93.

Pauliuk, S., Müller, D.B., 2014. The role of in-use stocks in the social metabolism and in climate change mitigation. Global Environmental Change. 24, 132–142.

Pauliuk, S., Arvesen, A., Stadler, K., Hertwich, E.G., 2017. Industrial ecology in integrated assessment models. Nature Climate Change 7, 13–20.

 

[*] Frei nach dem Titel der Antrittsvorlesung Friedrich Schillers im Jahre 1789 in Jena: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“

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